Anne: Darüber hinaus sehe ich die Energie­ver­sorgung als einen großen Aspekt, weil sie für den gesamten Lebens­zyklus des Gebäudes relevant ist. Wenn wir da ein nachhal­tiges System geschaffen haben, ist das unheimlich viel wert. Ein Bau kann ganz konven­tionell aussehen und mit Beton gebaut sein, aber er kann vielleicht mit Erdwärme (Geothermie) versorgt werden oder Solar­kol­lek­toren oder Photo­voltaik auf dem Dach haben. Einen weiteren hohen Stellenwert hat natürlich die Primär­kon­struktion, weil sie viel Volumen­masse eines Gebäudes deckt: Bei Altbauten treffen wir meist auf Holzbal­ken­decken, die Haupt­masse ist also aus Holz, aber Keller­decken sind betoniert. Wenn wir alle dahin kommen, möglichst wenig Beton bei horizon­talen Bauteilen einzu­setzen oder, besser gesagt, Beton bewusster einzu­setzen, ist das ein Fortschritt. Aber auch dies lässt sich nicht pauschal umsetzen. Denn wir haben viele weitere Stell­schrauben, bis hin zur einfachen Wahl von z. B. lösemit­tel­freien Farben mit Nachhal­tig­keits­sym­bolen wie dem ›Blauen Engel‹.

Albrecht: Das kann ich nur bestä­tigen und unter­streichen. Dass sich die Nachhal­tig­keits­be­wertung nach BNB aus 140 verschie­denen Einzel­kri­terien zusam­men­setzt, zeigt wie umfassend das Thema ist. Den größten Einfluss können wir nehmen, wenn wir möglichst früh im Entwurf an allen Stell­schrauben – auch den kleinen – drehen. Dabei müssen wir auch manche Ansprüche oder bisherige Standards hinter­fragen und zu Kompro­missen bereit sein, für die Zukunft, für ein insgesamt besseres Klima.

Stichwort Lebens­zyklus – es wird immer öfter von ›Cradle to Cradle‹ gesprochen. Was genau ist damit gemeint?

Anne: ›Cradle to Cradle‹ bedeutet ›von der Wiege in die Wiege‹, also dass man den gesamten Lebens­zyklus eines Gebäudes und seiner Materialien als Kreislauf betrachtet und beim Bauen mitdenkt. Die Kreis­lauf­be­trachtung und Gesamt­bi­lan­zierung schließt auch die Energie mit ein: Die Energie, die in die Herstellung eines Materials einfließt, muss zur Gesamt­bilanz des Gebäudes hinzu­ge­zogen werden. Wir müssen alle unsere Scheu­klappen aufmachen und darüber nachdenken, dass da eine ganze Menge kommt, noch bevor der Ziegel oder die Dämmung verbaut werden. Und es kommt auch noch eine ganze Menge danach: Was ist mit Entsorgung, mit Rückbau, mit Langle­bigkeit? Ideal ist es, wenn man die Materialien nach einem Rückbau möglichst sortenrein vonein­ander trennen und wieder für die Produkt­her­stellung nutzen kann – und diesen Kreislauf mehrmals durch­läuft. Wir können nicht so weiter­machen und der Erde immer mehr Rohstoffe und Ressourcen entziehen. 60 Prozent der Ressour­cen­in­an­spruch­nahme entfallen auf den Bausektor – da muss ein Umdenken statt­finden. Dafür steht ›Cradle to Cradle‹.

Albrecht: Es wäre schön, alles wieder­zu­ver­wenden. Aber ›Cradle to Cradle‹ ist oft noch Theorie – und in der Praxis mit den zur Verfügung stehenden Baustoffen nicht so einfach umzusetzen, beispiel­weise beim Standard im Wohnungsbau: Gipsputz auf Beton.

Beton wird immer mehr zum Diskus­si­ons­ge­gen­stand, weil seine Produktion unglaublich viel CO2 produ­ziert und zugleich den Sand der Erde verbraucht. Merkt man das jetzt auch beim Bauen? Schließlich wird trotzdem noch viel mit Beton gebaut.

Albrecht: Wir wissen, dass die Ressourcen in verschie­denen Regionen der Welt zu Ende gehen, aber es ist wie mit dem Öl: Solange noch etwas da ist, tun alle so, als sei es egal. Beton ist Standard. Beton kriegt man überall. Beton kennt jeder. Jede Firma arbeitet damit. Aber wir arbeiten auch mit und an anderen Baustoffen. Mein Traum ist, dass wir zu 95 Prozent mit ökolo­gi­schen, ressour­cen­scho­nenden Materialien natür­lichen Ursprungs bauen, die sich wirklich eins zu eins wieder­ver­werten lassen, sei es jetzt Holz, Lehm oder Ziegel. Und an den wenigen Stellen, wo wir darauf angewiesen sind, wie zum Beispiel bei Abdich­tungen oder kompli­zierten Membranen mit bestimmter Durch­läs­sigkeit, da nehmen wir dann eben Hightech: Weltraum­ma­te­rialien! Und wir gehen auf Firmen zu, um diesen Traum zu verwirk­lichen.

Wie steht es denn um die Entwicklung neuer, intel­li­gen­terer Baustoffe?

Albrecht: Es wird schon lange an alter­na­tiven Produk­ti­ons­me­thoden geforscht. Zwei Deutsche arbeiten zum Beispiel an einem Beton aus Wüstensand, der eigentlich zu fein dafür ist. Die Frage ist auch, wie dieser Sand dann aus der Sahara nach Deutschland kommt. Das ist wiederum ein Grund, der für Lehm und für Ziegel spricht. Und Holz. Eben regio­nalere Produkte. Aller­dings wird es kein Holzge­bäude in der Innen­stadt geben, das keinen Beton­keller hat, im Erdreich mit Abdich­tungen arbeitet oder ganz auf einen Keller verzichtet. Es gibt bisher kein Material, das wir unten im Erdreich so gut verbauen können wie Beton, wir brauchen ihn für die Funda­mente. Daher ist es wichtig, Beton so zu verbessern, dass er möglichst ökolo­gisch ist und weniger Energie braucht – bei der Herstellung wie bei der Zersetzung. Jetzt gibt es zum Beispiel schon einen neu entwi­ckelten Carbon-Beton. Carbon ist so ein Hightech-Material, dessen Einsatz hier Sinn ergibt, weil es nicht rostet. Das geht in eine inter­es­sante Richtung, dabei gilt es immer zu klären, inwieweit später eine sorten­reine Trennung möglich ist. Immerhin korro­diert die bisherige Bewehrung nicht, solange sie ausrei­chend abgedeckt ist. Was ich mir diesbe­züglich generell wünsche, ist ein größerer Dialog zwischen der Archi­tek­tur­branche und der Industrie. Wir wollen noch stärker ins Gespräch kommen und ihnen sagen, was wir brauchen, und zuhören, was möglich ist, und an gemein­samen Lösungen arbeiten.

Anne: Wie überall in der Wirtschaft ist es so, dass Nachfrage auch das Angebot formt. Also je mehr wir den Fenster­firmen und den Dämmher­stellern die Produkte nicht mehr abnehmen, wenn sie kein Nachhal­tig­keits­konzept aufweisen, desto mehr werden diese Unter­nehmen dafür tun, dass Produkte auf den Markt kommen, die genau diesen Aspekten – Kreis­lauf­wirt­schaft, Rückbau­barkeit – gerecht werden. Und hier hilft eine gesetz­liche Regulierung.

Schauen wir auf eines unserer Projekte, das ›Telegraph‹ in der Köpenicker Straße. Hier standen der Umgang mit dem Bestand, der bewusste Einsatz von Materialien und die Geothermie im Mittel­punkt. Könnt Ihr kurz schildern, wie Ihr vorge­gangen seid und welcher Nutzen im Sinne der Nachhal­tigkeit langfristig zu erwarten ist?

Anne: Wir haben den Bestand entkernt und histo­rische Spuren offen­gelegt. Man sieht die Farbschichten auf den Bestands­wänden, sozusagen das vorherige Leben des Gebäudes. Der Neubau ist als Ruine gedacht, der von der Natur zurück­er­obert wird. Hier nutzen wir die Beton­kern­ak­ti­vierung, um thermische Energie zu speichern. Der Beton bleibt sichtbar, ist Tragwerk und Hülle, er erfüllt eine Funktion. Durch die intensive Begrünung der Fassaden schaffen wir zudem einen Ausgleich. Unter der Fahrrad­tief­garage im Hof zwischen Neubau und Bestand haben wir Erdwärme unter­ge­bracht und eine Photo­vol­ta­ik­anlage auf dem Dach des Neubaus. Insofern haben wir uns da viele Gedanken zur Energie­ver­sorgung gemacht. Die Tempe­ratur wird im ganzen Bau mittels Heiz- und Kühldecken bzw. -böden reguliert, es gibt keine Heizkörper. Über die Nutzungs­dauer des Gebäudes wird das einen sehr positiven Effekt auf den Energie­einsatz haben.

Albrecht: Und dann die Biodi­ver­sität: das Pflanz­konzept in den Höfen, die begrünten Gabionen an den Fassaden, die dort aufge­stellt wurden. Dahinter steckt ein richtig ökolo­gi­sches Konzept.

Anne: Genau. Für uns sind die Gabionen eine ganz neue Form der Fassa­den­be­grünung, in Japan gibt es die schon etwas länger. Sie haben einen positiven Effekt auf das Mikro­klima, reduzieren Feinstaub, senken mit der Verschattung und Verduns­tungs­kühle die Tempe­ra­turen und erhöhen die Luftfeuch­tigkeit. Sie bringen Masse rein. Es ist toll, dass der Bauherr da mitge­gangen ist.

Könnt Ihr generell etwas zum Einsatz von Pflanzen an Gebäuden sagen? Warum werden solche einfachen Mittel bisher so wenig genutzt?

Anne: Wir achten sehr darauf, dass wir Gründächer haben. Und das Thema ist bei uns im Büro gut vertreten. Aber einen so umfassend nachhal­tigen und ganzheit­lichen Ansatz wie jetzt beim ›Telegraph‹ – inklusive der Fahrrad­tief­garage, die es nun statt einer Autotief­garage gibt – haben wir in der Dimension bisher noch bei keinem anderen Projekt umsetzen können.

Albrecht: Gebäu­de­be­grünung wirkt sich extrem positiv aus, und auf den Dächern ist das bei Neubauten zum Glück immer üblicher. Zusätzlich zum ohnehin positiven Effekt für das Klima schützt das Grün das Dach vor der Sonne: Die Lebens­dauer des Dachs verlängert sich, die Oberflä­chen­tem­pe­ratur sinkt. Das ist elementar, wenn wir wissen, dass eine Photo­voltaik-Anlage nur bis zu einer bestimmten Tempe­ratur funktio­niert. Bei Fassaden sieht das schon wieder anders aus, Fassa­den­firmen wollen verständ­li­cher­weise keine Gewähr­leistung übernehmen und sagen: »Wenn Ihr da Grün hochranken lasst, dann könnte das meine Fassade zerstören.« Da muss die Industrie reagieren. Es wäre ebenfalls schön, wenn die Politik mehr einspringt und sagen würde: »Passt mal auf. Das wird jetzt einfach verpflichtend.« Diese langle­bigen und immer­grünen Fassaden sind dann natürlich wartungs­auf­wendig: Du hast Bewäs­se­rungs­an­lagen, Du hast einen energe­ti­schen Aufwand. Es gibt derzeit noch nicht viele Exper­tinnen und Experten, die sich mit der entspre­chenden Planung auskennen und dazu praxis­ori­en­tiert oder auch baurechtlich beraten können. Wir haben dies erkannt und deshalb spezia­li­sieren wir uns auf das Thema, um Fassa­den­be­grünung voran­zu­treiben.